Kinderliteratur und Moderne. Ästhetische Herausforderungen der Kinderliteratur im 20. Jahhrhundert.
Hans-Heino Ewers; Mara Lypp, Ulrich Nassen (Hrsg.): Weinheim und München: Juventa 1990 (vergriffen)
Moderne Kunst, Dichtung der Moderne – kann es etwas der Kinder- und Jugendliteratur entfernteres geben? Es scheint dies die landläufige Meinung zu sein. Bislang ist jedoch niemand der Frage nachgegangen, ob in der künstlerischen bzw. literarischen Moderne nicht doch eine ästhetische Herausforderung für die Kinder- und Jugendliteratur des 20. Jahrhunderts liegt. Die Beiträge dieses Bandes wollen die – positiven wie negativen – Beziehungen aufspüren, die zwischen der Kinder- und Jugendliteratur auf der einen, der künstlerischen bzw. literarischen Moderne auf der anderen Seite existieren. Mit der „Moderne“ sind hier die diversen „Kunst-“ bzw. „Literaturrevolutionen“ gemeint, die sich in den europäischen, teils auch außereuropäischen Ländern auf breiterer Front in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts vollzogen haben und die in Gestalt der verschiedenen Avantgarden bis zur Selbstnegation und -aufhebung der Institution „Literatur“ bzw. „Kunst“ vorgestoßen sind. Die Moderne bewirkt in allen literarischen (und künstlerischen) Gattungen einen tiefgreifenden Formenwandel, einen radikalen Umbruch der Gestaltungsweisen. Sie ist als literarische (bzw. künstlerische) Tendenz nicht auf das frühe 20. Jahrhundert einzugrenzen; vielmehr zählt sie, so oft auch versucht wurde, über sie hinaus- bzw. hinter sie zurückzugehen, zu den bleibenden und tatsächlich immer wieder aufgegriffenen formkünstlerischen Möglichkeiten des 20. Jahrhunderts.
Mit dem Anbruch der Moderne muß die Frage nach dem Verhältnis von Kinderliteratur und Erwachsenenliteratur neu gestellt werden. Hat sich gegenüber der klassischen bürgerlichen Literatur- (bzw. Kunst)epoche die Kluft zwischen ihnen vergrößert oder verringert? Es scheint mir hierbei sinnvoll zu sein, die Frage nach den möglichen Beziehungen zwischen der Kinderliteratur und der Moderne zunächst einmal zu trennen von der nach den faktisch realisierten Beziehungen. Bei der nach den möglichen Beziehungen dürfte sich eine höchst zwiespältige Antwort einstellen. Es gibt Ebenen der Moderne – ihr Hermetismus etwa -, auf denen der Abstand zu allem Kinderliterarischen sich erheblich vergrößert hat. Dafür hat die Moderne auf anderen Feldern – im Sprachspiel, im Nonsense beispielsweise – sich dem Kinderliterarischen in einem Maße angenähert, wie es für die bürgerliche Literatur des 19. Jahrhundert unvorstellbar gewesen wäre. Die Moderne war sogar in der Lage, Kinderbücher wie „Alice in Wonderland“ rückblickend in ihre Ahnenreihe aufzunehmen. So wenig das Verhältnis von Kinderliteratur und Moderne auch auf einen Nenner zu bringen sein dürfte, eines scheint unabweislich zu sein: Die Moderne hat auch auf dem Gebiet der Kinder- und Jugendliteratur Epoche gemacht.
Mit welcher Verspätung, mit welcher Nachhaltigkeit sie dies getan hat, sind bereits Fragen, die die faktische Beeinflussung der Kinderliteratur durch die Moderne betreffen. Die Kinderliteratur hat sich im 20. Jahrhundert bekanntermaßen weitgehend in der Obhut von ausgesprochen antimodernistisch gesinnten Kräften befunden; so hat sie vielfach das nicht aufgenommen, was für sie an Inspirierendem in der Moderne enthalten war. Eine in diese Richtung gehende Öffnung dürfte es auf breiterer Front erst seit den 50er, im deutschsprachigen Raum erst seit Mitte der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts gegeben haben. Bezüglich der ersten Jahrhunderthälfte wäre – von den wenigen, eben deshalb so bedeutenden Ausnahmen abgesehen – wohl nur zu oft Fehlanzeige zu vermelden, allenfalls eine vordergründige Aufnahme der Moderne, ihrer Themen mehr als ihrer Formensprache.
Dieser Band legt die Ergebnisse einer Tagung vor, die vom 28. bis 30. April 1989 in Stuttgart stattfand und von der „Arbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendliteraturforschung“ veranstaltet wurde. Die Verfasserinnen und Verfasser haben ihre Beiträge nachträglich überarbeitet, wobei der Vortragscharakter in unterschiedlicher Weise gewahrt wurde. Wolfgang Schneider konnte seinen Vortrag auf der Stuttgarter Tagung nicht halten, hat ihn aber für die Publikation der Tagungsergebnisse nachgereicht. Ein vorgesehener Beitrag von Dagmar Grenz zum Adoleszenzroman kam gleichfalls nicht zustande; er wurde wenig später auf einer anderen Konferenz präsentiert, von der Autorin jedoch freundlicherweise für diesen Band zur Verfügung gestellt.